Die Chemieindustrie kommt nicht los vom Erdgas
Brunsbüttel, Wilhelmshaven und Stade sind bedeutende deutsche Industriehäfen. Hier haben sich viele der Unternehmen mit einem hohen Bedarf an Gas und Öl angesiedelt; dazu gehört unter anderem die Petrochemie- und Plastikindustrie. Daher wurden an diesen Standorten auch die ersten deutschen LNG-Terminals gebaut, sodass diese den benachbarten Industrieanlagen die direkte Versorgung mit Flüssigerdgas ermöglichen. Knapp 22 Prozent des deutschen Industriestromverbrauchs und sogar 37 Prozent des industriellen Gasverbrauchs gehen auf das Konto des petrochemischen Sektors. Und trotzdem wird diese Branche in Energie- und Klimadebatten oft vernachlässigt und hat bisher keine konkreten Dekarbonisierungspläne vorgelegt.
Mit ihrem riesigen Verbrauch an Gas, Öl und Strom überbietet die Chemie- und Kunststoffproduktion andere energieintensive Industriezweige wie die Stahlproduktion, den Auto- oder Maschinenbau. Das verflüssigte Gas der LNG-Terminals dient dabei als Energielieferant für die Stromproduktion oder als Rohstoff für die Herstellung von Kunstdünger. Andere Gase wie Ethan, Propan oder Butan werden zur Erzeugung grundlegender chemischer Verbindungen wie Ethylen und Propylen verwendet, die wiederum in der Produktion von Plastik und chemischen Produkten zum Einsatz kommen. Verpackungen machen dabei laut Umweltbundesamt einen Anteil von über 31 Prozent aus; in der gesamten EU sind es sogar 40 Prozent. Die Einsparung vieler dieser Verpackungen, wie zum Beispiel Plastikhüllen um Gurken oder Salat oder auch andere Einwegbehältnisse könnten EU-weit nicht nur die tonnenweise Produktion aus fossilen Rohstoffen sparen, sondern auch Wasser und Kosten für Umweltschäden, die durch die falsche Entsorgung von Plastik entstehen.
Viele große Chemieproduzenten haben bislang keine Pläne oder Strategien zur Reduktion oder Abkehr von fossilen Gasen vorgelegt. Der Chemieriese Dow, einer der Hauptproduzenten von Fracking-Chemikalien, ist als Gesellschafter direkt am Bau des LNG-Terminals in Stade beteiligt, das sich auf einem Grundstück der US-Firma befindet. Unter dem Namen „ChemCoast Park“ setzen sich 15 Unternehmen schon lange für den Bau eines LNG-Terminals in Brunsbüttel ein und werben mit dem Terminal als Standortfaktor für die petrochemische Industrie. Allein der Düngemittelhersteller YARA verbrennt dort jährlich ein Prozent des gesamtdeutschen Erdgasbedarfs. Ebenfalls in Brunsbüttel plant der britische Chemieproduzent INEOS über einen Zeitraum von 20 Jahren US-Flüssiggas-Importe in Höhe von 1,4 Millionen Tonnen jährlich aus Port Arthur, einem der größten Industrie-Standorte im Bundesstaat Texas (und einem der weltweit am meisten verschmutzten Orte), um sich und seine Industriekunden zu versorgen. Auch der größte deutsche Chemieproduzent BASF wird sich ab 2026 mit LNG des US-amerikanischen Unternehmens Cheniere beliefern lassen, das dafür seine Förderanlage auf eine jährliche Kapazität von 50 Millionen Tonnen gefracktem Flüssigerdgas ausbaut. An welchem deutschen Terminal das Flüssigerdgas ankommen wird, wurde derweilen nicht bekannt gegeben. Die Lieferverträge belaufen sich auf den Zeitraum bis 2043 – von Dekarbonisierungsbemühungen also keine Spur. Bis Ende 2043 müssen Anlagen ihren Betrieb mit verflüssigtem Erdgas laut dem LNG-Beschleunigungsgesetz einstellen. Die gesetzlich möglichen Lieferzeiträume werden damit von den Unternehmen unvermindert ausgeschöpft.
Abkommen wie diese tragen dazu bei, dass die Abhängigkeit von fossilem Gas in Deutschland durch energie- und rohstoffintensive Firmen aus der Petrochemie- und Plastikindustrie weiter verlängert wird. Mit der zunehmenden Erholung der Preise für Gas und Strom dürfte auch die Nachfrage der Chemieindustrie wieder steigen und gesamtwirtschaftliche Bemühungen zur Reduzierung der CO₂-Emissionen behindern. Da eine konkrete Strategie dieser Unternehmen zum Gasausstieg weiterhin fehlt, drohen neue volatile Abhängigkeiten von LNG.
Bisher haben die drei deutschen LNG-Terminals nur einen verschwindend geringen Anteil an der Gasversorgung deutscher Haushalte ausgemacht. Nach Angaben der Bundesnetzagentur wurden über sie im ersten Halbjahr seit der Inbetriebnahme insgesamt nur etwa 6,4 Prozent des importierten Erdgases über LNG-Terminals abgewickelt, obwohl die vierfache Menge von der Bundesregierung erwartet worden war. Das legt nahe, dass ein Großteil der bisherigen LNG-Importe in die Deckung des Gasbedarfs der Plastik- und Petrochemie geflossen ist. Diesen gilt es grundsätzlich zu reduzieren und auf klimaneutrale Alternativen umzusteigen.